Sonntag, 6. Dezember 2009

Skaz

Ich lese gerade Hundejahre und bin aufs neue von dem merkwürdigen Grass'schen Stil beeindrückt. Den Begriff 'skaz' fällt mir hier ein. Ich weiss nicht, ob man seine Werke jemals so bezeichnet hat. Vielleicht greife ich zu weit. Aber es passt irgendwie ganz gut.

Vor einigen Semestern versuchte ich den russischen Begriff für ein Referat zu erklären. Da die typische Beispiele (Leskow, Gogol, Zoshchenko) dem Nicht-Slawisten eher wenig bekannt sind, wollte ich Autoren aus dem englisch- oder deutschsprachigen Raum erwähnen, aber fand mich ziemlich in Verlegenheit, gute Exemplare zu finden. Huckleberry Finn oder Catcher in the Rye kämen dabei infrage, aber keiner von den beiden scheint mir ganz zuzutreffen. Nach meiner Auffassung des Begriffs ist skaz nämlich nicht bloß Dialektliteratur. Die Orientierung auf mündliche Erzählformen ist ein wichtiges Bestandteil, aber nicht entscheidend. Obwohl es mir etwas schwierig fällt zu beschreiben, warum. Was fehlt ist eine gewisse Stilisierung, ein spürbarer Kontrast zwischen der Welt des Erzählers und der des Autors und Adressats.

Bei Bachtin habe ich neulich eine Stelle gefunden, die dieses Merkmal von skaz ganz gut beschreibt -- auch wenn der Begriff in der deutschen Übersetzung nicht direkt vorkommt. Ich kann es mir aber schwer vorstellen, daß er hier nicht an skaz dachte. Es wäre allerdings interessant zu sehen, was im Originaltext steht.
...Eine ganz andere Bedeutung erlangen fiktiver Autor und Erzähler dort, wo sie Repräsentanten eines besonderen Standpunktes gegenüber der Welt und den Ereignissen, besonderer Wertungen und Intonationen sowohl in bezug auf den Autor, sein tatsächliches direktes Wort, als auch auf das 'normale' literarische Erzählen und auf die Sprache sind.[...]In jedem Fall werden dieser besondere fremde Horizont, dieser besondere fremde Standpunkt zur Welt vom Autor wegen ihrer Produktivität bevorzugt, weil sie einerseits den Gegenstand der Abbildung in ein neues Licht stellen (in ihm neue Aspekte und Momente entdecken), andererseits den 'normalen' literarischen Horizont, vor dem die Besonderheiten der Erzählweise des Erzählers rezepiert werden, in neuer Weise ausleuchten.

[...]in diesem Fall liegt ein 'nicht-direktes Sprechen', ein Sprechen nicht in einer Sprache, sondern durch einer Sprache, ein fremdes sprachliches Medium vor, und daher auch eine Brechung der Intentionen des Autors.

Der Autor verwirklicht sich und seinen Standpunkt nicht nur im Erzähler, in dessen Rede und dessen Sprache...sondern auch im Gegenstand der Erzählung, einem Standpunkt, der vom Standpunkt des Erzählers verschieden ist. Hinter der Erzählung des Erzählers lesen wir eine zweite Erzählung - die Erzählung des Autors über dasselbe, wovon der Erzähler erzählt, und außerdem über den Erzähler selbst.

Michail M. Bachtin. "Das Wort im Roman". Aus: Die Ästhetik des Wortes. Übers. Rainer Grübel und Sabine Reese. Suhrkamp. S. 202-3.
Bei Dialektliteratur -- ich denke hier an den schottisch-geprägten Sunset Song von Lewis Grassic Gibbon oder die schweizerische Dialekte im Quatemberkinder von Tim Krohn, aber die Erzählungen von Theodor Storm wären auch gute, wenn weniger ausgeprägte Beispiele -- gibt es diese Spannung einfach nicht. Der Erzähler taucht völlig in der Welt des Erzählten ein. Sie ist ihm nicht fremd. Das Blick 'nach außen' fehlt.

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